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Flucht 1944/45 - "Angst, Hoffnung, Glück":
Mein erstes Lebensjahr
- eine wahre (lebendige) Geschichte -
Heinz Georg Elender
*07.Okt.1944
in Duisburg
in den Bombennächten
Meine Oma Käte schrieb für mich dieses Tagebuch
( Käte Preißler geb. Mattern geboren 1901, gestorben 1985)
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Tagebuch für HEINZ GEORG !
Am 7.Oktober 1944,
abends um 20.15 Uhr, erblicktest Du das Licht der Welt, im Säuglingsheim zu Duisburg am Rhein.
Du warst ein kräftiger Junge. Erstaunt war ich, als ich Dich am anderen Morgen sehen durfte. Durch die dunklen langen Haare sahst Du sehr niedlich aus.
Einige Stunden warst Du auf Gottes Erdboden, da ertönten schon die Sirenen - Alarm!
Feindliche Flieger, schon musstest Du in den Keller. So ging es Tag und Nacht bis zum 14.Oktober, da erlebtest Du den ersten Angriff auf Duisburg morgens um 9 Uhr.
In der Nähe des Säuglingsheimes waren mehrere Bomben gefallen, so dass es sehr beschädigt wurde. Nun hiess es, die Wöchnerinnen die eben laufen können, werden notdürftig entlassen.
So kamst Du am 7. Tag mit Deiner Mutter nach Hause.
Kaum warst Du da, mussten wir schon mit Dir in den Bunker rennen. Es war 14 Uhr, der Alarm hielt an, so dass wir vorerst nicht aus dem Bunker konnten. Wir saßen mit Dir in einer kleinen Zelle mit mehreren Frauen mit Kindern.
Licht hatten wir keines, durch den Tagesangriff fehlte Licht, Gas und Wasser.
Nachts um 24 Uhr mussten wir mit Dir den Bunker verlassen. Ahnungslos gingen wir nach Hause, legten uns mit den Kleidern ins Bett. Um 1.30 Uhr wurden wir durch Bombenwurf aus dem Schlaf geweckt. Deine Mutter schnappte Dich und lief mit Dir in den Keller. Schon fiel Bombe auf Bombe, es war der zweite Angriff. Zum Bunker konnten wir nicht mehr. Nun saßen wir aneinander geschmiegt. Deine Mutter mit Dir auf dem Arm, ich Deine Mutter im Arm haltend und Opa vor uns stehend.
So beteten wir laut, Gott möge uns beschützen und wir zitterten am ganzen Leibe. Mit uns waren noch zehn Hausbewohner im Keller, keiner war fähig ein Wort zu reden.
Ein Volltreffer im Garten nahm uns den letzten Mut. Vierzig Minuten dauerte der Angriff. Auf unsere Straße fielen mehrere Bomben, sechs Häuser brannten. Als wir nach oben kamen, waren keine Türen und Fenster mehr drin. Alles war ein Trümmerhaufen. Wir packten Dich gleich in den Waschkorb und liefen durch die brennende Straße zum Bunker.
Um 2.50 Uhr kam der dritte Angriff. Im Bunker merkten wir nur die Einschläge. Nun musstest Du mit uns bis Montag morgens im Bunker bleiben, da wir ja nicht wussten, wo wir mit Dir hin sollten, auch war ständig Alarm. Wir hatten kein Wasser. Waschen konnten wir Dich nicht, kaum trocken legen. Meistens habe ich Dich auf dem Arm gehalten, da Deine Mutter ja so schwach war und selbst noch nicht konnte.
Montags morgens gingen wir raus, um mal frische Luft zu atmen. Opa hatte eine Decke vors Fenster genagelt und bei Kerzenlicht habe ich Dich dann schnell nach 2 Tagen etwas gewaschen mit dem Wasser, welches sich noch im Wasserkessel befand.
16. Oktober:
So gegen 10 Uhr kamen zwei ehemalige Kolleginnen von Deiner Mutter und holten euch nach Rheinhausen. Es war für Deine Mutter viel, am 9. Tag eineinhalb Stunden Weg bei Regenwetter zu gehen.
Bei den Leuten habt ihr dann liebevolle Aufnahme gefunden.
17. Oktober:
Opa holte euch wieder zurück, da die Oma von Remscheid gekommen war. Gegen 2 Uhr mittags kamt ihr an, und wir mussten gleich wieder in den Bunker.
Um 4 Uhr war Entwarnung. Ohne Dich, kleiner Liebling, nochmals trocken zu legen, ging es dann erst mal zu Fuß bis neuer Friedhof. Unterwegs bekamst Du unter der Decke die Flasche.
Tante Edith war auch dabei und so ging es mit der Schnellbahn nach Düsseldorf und dann mit dem Zug nach Remscheid, um 23 Uhr wart ihr dort angekommen.
Die ersten Tage als ihr dort wart, hattet ihr so ziemlich Ruhe. Dann wurde es aber immer schlimmer mit dem Alarm, es war genau so wie in Duisburg. Am 6.11. war ein Angriff auf Solingen, derselbe wirkte sich bis Remscheid aus. Deine Tante Edith, die als Rote-Kreuz-Helferin eingesetzt wurde, hat da ihr Leben lassen müssen.
Am anderen Tag ist Deine Mutter mit Dir bei Alarm in die Büsche gegangen. Auch hat sie mit Dir mal in einem Erdloch gesessen.
11. November:
Heute holte Dich Opa mit Deiner Mutter wieder nach Duisburg. Gegen 24 Uhr kamt ihr an und wir mussten wieder sofort in den Bunker. Dort hast Du nun die ganze Nacht auf der Bank geschlafen. Ich habe mich neben Dich gesetzt damit Du nicht herunter fielst.
Samstag Morgen 5 Uhr sind wir nach Hause gegangen, gegen 10 Uhr mussten wir wieder hinaus rennen. So ging es den ganzen Tag. Abends um 6.30 Uhr waren wir gerade im Bunker, da ging die Sirene. Um 22.30 Uhr war Entwarnung, da haben wir es riskiert nach Hause zu gehen.
13. November:
Heute reisten wir als Evakuierte nach Meißen in Sachsen.
Morgens um 4 Uhr fuhren wir mit dem D-Zug nach Düsseldorf. Von dort ging es dann mit dem nächsten D-Zug weiter. Wir fuhren durchs ganze Sauerland und den Harz, kamen um 16.30 Uhr in Halberstadt an. Dort mussten wir umsteigen. Sind dann zuerst mit Dir zum N.S.V. gegangen, um Dich trocken zu legen und damit Du etwas zu trinken bekamst. Das hatte alles ganz gut geklappt bis dahin, denn Opa war ja bei uns.
Nun konnten wir den verspäteten D-Zug nach Leipzig nehmen. Um 19.35 Uhr traf der ein.
Jetzt wurde uns fast das Einsteigen verwehrt, da der Zug überfüllt war. Es half nichts, wir mussten ja mit, wegen Dir. Die Strapazen konntest Du unmöglich noch einen Tag länger mitmachen. Nach allem Bitten und Flehen hat uns dann ein Schaffner zwischen den Packwagen in einen Gang gesteckt.
Es war so eng und kalt darin, aber wir wollten die vier Stunden bis Leipzig aushalten. In Leipzig haben wir dann zugesehen, dass wir in ein Abteil kamen, haben auch Glück gehabt, so ging es dann bis Dresden. Gegen 4.30 Uhr konnten wir weiter nach Meißen. Opa nahme nun von uns Abschied, weil er wieder zurück nach Duisburg musste. Wir drei fuhren dann weiter und trafen um 6 Uhr morgens in Meißen ein, um 6.30 Uhr waren wir bei Tante Seibt angekommen. Die liebe, gute alte Tante war sehr gerührt als sie uns begrüßte und bot uns gleich liebevolle Aufnahme an. Tante Tekla trug auch ihren Teil dazu bei.
Nun wohnen wir bei Tante Seibt im Haus auf ihrer Enkelin´s Wohnung. Ursula stellt uns ihre ganze Wohnung zur Verfügung und heisst uns herzlich Willkommen!
So fühlen wir uns ganz heimisch, fast vergisst man, daß wir Flüchtlinge sind. Du kleiner Heinz Georg scheinst die Ruhe zu bemerken. Täglich merkt man wie Du gedeihst, sogar schenkst Du uns nach 8 Tagen Dein erstes Lächeln. Wir freuen uns so sehr darüber, daß wir Dich immer wieder zum Lachen zwingen und darüber alles Leid vergessen.
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Unsere Unterkunft in Meißen bei Frau Seibt |
20. November:
Doch wir waren vom Pech verfolgt:
Wir gingen zur Post und wollten auf Dein Sparbuch Geld einzahlen, da wurde Deiner Mutter ihre Geldbörse mit 240.- RM gestohlen. Darin befanden sich weiter ein Ring von Deinem Vater, 30 Freimarken und 5 Päckchenmarken. Deiner Mutter tat hauptsächlich der Verlust der Geldbörse Leid, da es das letzte Geschenk von Deinem Vater war, ein Weihnachtsgeschenk.
22. November:
Seit wir hier sind mussten wir schon zweimal den Keller aufsuchen wegen Fliegeralarm.
25. November:
Heute am Samstag kam ganz plötzlich der Opa.
Brachte uns die sehr traurige Nachricht, daß Dein lieber Vater seit dem 8.11.44 vermißt sei. Für uns eine sehr schmerzliche Nachricht, da wir Deinen Vater so lieb haben. Eine Hoffnung haben wir ja: Ein Kamerad von Deinem Vater besuchte Opa und sagte, er sei in amerikanische Gefangenschaft geraten. Gott gebe, dass es so ist.
Nun warten wir auf eine baldige Nachricht.
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Opa Hermann überraschend zu Besuch in Meißen |
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Mein Vater als "Prisoner of war" in Amerika |
29. November:
Unser Heinz Georg ist munter und fidel.
2. Dezember:
Heute bekamst Du den ersten Zwieback, weil Du angeblich nicht mehr satt wirst. Mit gutem Appetit hast Du denselben verzehrt.
5. Dezember:
Dein Lachen wird immer stärker, sogar fängst Du schon an zu erzählen. Heute hat Ursula Dich photographiert, wir sind nun gespannt, wie die Bilder werden. Am Abend brachte Tante Marta Dir Dein erstes Spielzeug, einen Hund aus Wachstuch welchen sie selbst angefertigt hat. Leider bist Du noch zu klein um dasselbe zu beachten. Von Onkel Georg erhielten wir zwei Päckchen mit Schmalz und Speck. Darüber freuten wir uns besonders, da hatten wir wieder etwas zum Zusetzen.
6. Dezember:
Heute mussten wir mit Dir zweimal in den Keller.
11.Dezember:
Einen unruhigen Tag hast Du heute. Vom schlafen willst Du nichts wissen. Am Mittag hatten wir Dich mit dem Kissen auf dem Tisch liegen. Da hast Du uns erzählt und so gelacht, dass Deine Mutter und ich haben herzlich lachen müssen.
Von Deinem Vater haben wir immer noch keine Nachricht.
15.Dezember:
Die nächsten Tage brachten keine besonderen Ereignisse. Von Deinem Patenonkel Georg kamen wieder zwei Päckchen mit Speck und Schinken. Dann ist bei uns jedesmal ein Festtag.
21. Dezember:
Heute haben wir wieder Glück, abermals kann ich auf der Post zwei Päckchen von Onkel Georg für uns abholen. Sonst gibt es keine Neuigkeiten.
24. Dezember:
Heiliger Abend!
Es war wohl für Deine Mutter und mich der traurigste, den wir erlebt haben. Zweimal hatten wir heute Alarm.
Du kleiner Schatz liegst im tiefsten Schlaf, während ich diese Zeilen schreibe. Vom Heiligen Abend merken wir beide nichts, denn keinen Tannenbaum oder sonst irgend etwas besitzen wir, was uns daran erinnern könnte. Wir denken an die Heimat und wünschen uns, dass der schreckliche Krieg bald zu Ende gehen möge, damit wir recht bald wieder in unsere Heimat zurückkehren können.
Heute erhielten wir die traurige Nachricht, daß Onkel Alfred in Jugoslawien gefallen sein soll. Mutter und ich sind sehr traurig, so dass wir uns früh zu Bett legen um allen Kummer zu vergessen.
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Mutti Hilde vor der Kulisse in Meißen, im Hintergrund die Albrechtsburg |
25/26. Dezember:
Weihnachten!
Ist für uns traurig wie nie zuvor. Du bist ja heute elf Wochen alt, Dein sonniges Lachen hilft uns über alles hinweg. Tante Scheffler , Mutters Freundin, schickte Dir heute 20.-RM zum Christkind. Tante Lina brachte Dir ein Paket Marzipan und eine Windel. Tante Tekla schenkte Dir ein Rebelchen. Auch heute ließ uns der Tommy nicht in Ruhe.
1.Januar 1945:
Neujahr!
So vergehen die Tage, Du bist munter und fidel. Nun fängst Du schon an zu erzählen und Dein Lachen wird immer häufiger. Den größten Spaß machst Du uns, wenn Du abends Deinen Zwieback bekommst, dann müssen wir Dich mit zwei Mann füttern, sonst geht es Dir nicht schnell genug.
Von Deinem Vater haben wir immer noch keine Nachricht.
Auch heute zum neuen Jahr musste der Tommy uns stören, meistens kommt er immer wenn Du gerade gebadet wirst.
10.Januar:
Von Neujahr bis heute verliefen die Tage ohne weitere Ereignisse.
Heute hat Deine Mutter ihren 23.Geburtstag. Wir haben gefeiert, Ursula mit ihrer Mutter, Tante Marta, Frieda und Tekla mit Tante Seibt waren unsere Gäste. Mutter bekam sehr viel Blumen geschenkt, etwas Porzellan und andere Kleinigkeiten. Du kleiner Schatz warst der Mittelpunkt der Gesellschaft.
Mitten in unsere Gemütlichkeit platzten Tante Minna und Onkel Josef herein. Beide kamen aus Duisburg und brachten schlechte Neuigkeiten mit, auch über den Russen kommen bedrohliche Nachrichten. So endete unsere Feier in ganz bedrückter Stimmung.
14. Januar:
Wieder mussten wir zweimal in den Keller.
15. Januar:
Du wirst immer kräftiger, fängst an Dich in die Höhe zu recken. Das besondere ist, wenn Du auf dem Tisch liegst, lachst Du immer die Schattenbilder an, ebenso das Überhandtuch welches bunt gestickt ist. Daran hast Du Deine besondere Freude und lachst es immer an.
Von Deinem Vater haben wir immer noch keine Nachricht.
16. Januar:
Die Tage vergehen. Du wirst immer größer.
Nun treten neue Sorgen an uns heran, der Russe kommt immer näher.
30. Januar:
Nun musst Du wieder öfter mit uns in den Luftschutzkeller, Du tust mir so Leid. Die Fliegertätigkeit wird immer toller (heftiger, Anm. H.G.E.). Auf den Straßen sieht man Ströme von Flüchtlingen, alles flieht aus dem Osten.
1. Februar:
Nun müssen wir täglich mehrmals in den Keller, auch nachts. Es ist wie toll (ein verstörtes Durcheinander, Anm. H.G.E.), genau wie im Westen.
10. Februar:
Von Deinem Vater haben wir immer noch keine Nachricht.
Tag für Tag, Nacht für Nacht haben wir Alarm. Du tust mir am meisten Leid, bist immer so artig.
Uns geht es sehr schlecht, trockenes Brot ist an der Tagesordnung.
13. Februar
Heute Abend wurden wir von hunderten Bombern überflogen. Alle waren aufgeregt und dachten wir bekämen einen Angriff.
Es war der erste Großangriff auf Dresden. Der Alarm wird immer toller (heftiger, Anm. H.G.E.), die Flieger sind schon vor dem Alarm über uns. Dann müssen wir noch mit Dir kleiner Schatz zum öffentlichen Luftschutzbunker laufen. Deine Mutter und ich können dann kaum vor Aufregung weiter.
14. Februar:
Mittag 11.30 Uhr ist Alarm.
Hunderte von Flugzeugen überfliegen wieder unsere Stadt. Nachdem wir zwei Stunden im Keller gesessen haben ist Entwarnung. Du kleiner Kerl bist immer so lieb dabei.
Es war wieder ein Angriff auf Dresden. Wie sehr habe ich heute während des Alarms an Duisburg denken müssen, wenn wir dort einen Angriff hatten. Der liebe Gott soll uns hier davor beschützen, denn in diesem primitiven Keller können wir uns nicht schützen. Bei der Tante hier gibt es überhaupt keinen Keller, deshalb müssen wir immer in den Öffentlichen laufen. Der Weg dorthin ist sehr bergig und deshalb fällt es uns immer so schwer.
15. Februar:
Mit dem Alarm wird es immer toller (heftiger, Anm. H.G.E.). Jeden Tag müssen wir einige Male zum Luftschutzkeller laufen. Mutti und ich können fast nicht mehr, unsere Kräfte reichen bald nicht mehr aus.
20. Februar:
Wir gehen schon immer mit Dir los, wenn im Radio was gemeldet wird, sonst kommen wir nicht mehr hinein. Heute überraschte uns der Alarm und wir mussten uns sehr beeilen. Durch die Aufregung bekam Deine Mutter unterwegs einen Herzanfall.
Die Ungarner, die auch als Evakuierte in Meißen sind und mit uns immer zusammen den Alarm im Keller verbringen, kommen mir zu Hilfe. Meine Aufregung kann ich kaum beschreiben.
1. März:
Du bist immer guter Dinge und fängst an uns in Deiner Sprache etwas zu erzählen. Auch Dein Appetit ist sehr groß.
5. März:
Große Sorgen und kaum etwas zu essen ist an der Tagesordnung.
Mutti und ich sind heute wieder so verzweifelt, Du kleiner süßer Kerl hilfst uns wieder darüber hinweg.
10. März:
Die Zeiten werden immer bedrohlicher. Der Russe kommt immer näher, was sollen wir tun? Allein können wir schlecht mit Dir fort, da wir dann kein Gepäck mitnehmen können.
15. März:
Ein Tag wie der andere ist sorgenvoll und es gibt immer nur trockenes Brot zu essen.
1. April:
Heute wurde durchs Radio gemeldet, dass der Sieg nicht mehr weit sei. Trotzdem kommen die Russen immer näher. Was sollen wir nun glauben?
5. April:
Wir wissen nicht was wir tun sollen, haben zu nichts mehr Lust. Am liebsten wären wir fort von hier.
16. April:
Der erste Panzeralarm!!
Die Amerikaner kommen, so heisst es !
Wir flüchten alle in die Keller. Nach einer Stunde ist wieder Entwarnung.
17. April:
Der Russe ist bis zur anderen Elbseite durchgebrochen. Wir liegen teilweise unter Artilleriebeschuss.
18. April:
Heute bekam Deine Mutter wieder einen Herzanfall auf dem Weg zum Bunker. Wir können fast nicht mehr nach Hause. Mutti bleibt mit Dir im Luftschutzkeller, da der Artilleriebeschuss stärker wird.
In stillen Momenten laufe ich schnell nach Hause und hole etwas zu essen. Sehr oft musste ich zwischendurch wieder zum Bunker laufen. Es ist für mich sehr anstrengend. Oft denke ich meine Kräfte sind bald zu Ende.
20. April:
Wir erhalten keine Post mehr, Mutti und ich sind bald der Verzweiflung nahe. Aber immer wieder müssen wir an Dich denken, Du kleiner Mann bist doch da und willst versorgt werden.
Die Artillerie schiesst immer noch.
22. April:
Heute wurde Meißen nachts geräumt.
Die Artillerie schiesst immer toller (heftiger, Anm. H.G.E.), so dass man es kaum wagen kann auf die Straße zu gehen. Nun müssen wir auch nachts im Luftschutzkeller bleiben. Es ist so kalt in dem Keller, dass wir es kaum aushalten können. Männlein, Weiblein und Kinder, alles liegt auf den Bänken herum.
Mutti und ich frieren sehr. Ein Herr von den Ungarn deckt uns mit einer Steppdecke zu. Deinen Wagen haben wir mit unseren Decken verhangen, damit Du uns ja nicht krank wirst.
23. April:
Der heutige Tag brachte dasselbe wie die Tage zuvor.
25. April:
Man ist so richtig von der Welt abgeschnitten, nur der Kanonendonner ist zu hören. Heute nachmittag 4.00 Uhr wurden die beiden Brücken gesprengt.
Es war furchtbar, wir dachten die Welt geht unter. Sehr viele Häuser sind dadurch beschädigt worden. Durch den Luftzug sind wir beinahe alle im Keller umgekommen. Kurz vorher war ich noch mit Dir oben und wollte Dich trocken legen, zum Glück waren wir gerade unten als es los ging. Nun war für uns klar was kam.
Tante Minna, Onkel Josef, Tante Marta und Maria flüchteten gleich nach der Sprengung zum Semmelsberg mit dem Vorwand, uns könnten sie jetzt nicht mitnehmen, sie würden uns morgen holen.
Mutti und ich sind unglücklich! Was sollen wir tun?
Die Ungarner, mit denen wir im Keller zusammen waren, laden uns ein, bei ihnen zu bleiben. Auf den Staßen sieht man nur noch Flüchtende. Die Artillerie schiesst wie toll.
Nun kam Tekla und riet uns auch sofort zum Semmelsberg zu gehen, sie käme auch mit, alle anderen hinterher. Schnell packte ich das Allernötigste zusammen und wir gingen mit Dir unter schwerstem Artilleriebeschuss zum Semmelsberg. Abwechselnd fuhren wir Dich, immer dicht an den Häusern vorbei, oft stehen bleibend, wenn die Granaten zu toll (heftig, Anm. H.G.E.)über uns pfiffen.
Die Soldaten in ihren Einmannlöchern verwiesen uns immer der Staße, aber wo sollten wir hin - aber wir mussten doch weiter!
Unsere Gedanken waren vollständig ausgeschaltet. Abgehetzt wie ein paar Hunde kamen wir glücklich nach zwei Stunden auf dem Semmelsberg an. Wir wurden liebevoll bei Familie Klaus aufgenommen.
26.April:
Wenigstens nach acht Tagen mal wieder im Bett schlafen. Du wirst heute nach langer Zeit mal wieder gebadet, darüber freust Du Dich so sehr, dass Du immerzu lachst.
Paul (Herr Klaus) ist so vernarrt in Dich, keiner darf Dir ein böses Wort sagen.
27. April:
Nun sind wir mit 15 Flüchtlingen hier. Es ist ein Großtrubel mit so vielen Menschen, aber Paul und Monika haben Verständnis für unsere Lage und sind sehr zuvorkommend. Da Monika es mit der Sauberkeit nicht so genau nimmt, fällt der Trubel gar nicht auf. Ein Lebensmittellager welches 20 Minuten von uns entfernt war, war zur Plünderung frei gegeben worden. Ich bin dann auch mit mehreren Frauen dorthin gegangen und habe Seifenpulver und Erbsen geholt.
29. April:
Das Essen wird immer weniger. Fett und Butter kennen wir schon lange nicht mehr. Deshalb sind wir trotz des Artilleriebeschusses über Land gegangen. Da ja alles Kampfgebiet ist, werden die Lebensmittel frei gegeben. Einige Eier, Milch und Fleisch bringen wir mit. Froh bin ich, dass ich für Dich kleiner Liebling etwas Milch bekommen habe.
Diese Nacht mussten wir wegen Artilleriebeschuss um vier Uhr aufstehen.
30. April:
Deine Mutter ist mit Maria über Land gegangen. Der Artilleriebeschuss wurde noch stärker. Mir wird es Angst und ich will ihr entgegen gehen, leider musste ich mit Marianne wieder umkehren, da die Einschläge schon ganz in unserer Nähe liegen. Deine Mutter und Maria kamen auch bald mit Zucker und Mehl nach Hause.
1. Mai:
Hitler ist gefallen, sonst erfährt man nichts.
2. Mai:
Das Leben geht hier weiter, trotz heftigen Kanonendonners. Wir sind immer noch mit 15 Personen hier. Deine Mutter und ich schlafen im Bett. Alle anderen liegen auf dem Sofa oder auf der Erde.
3. Mai:
Es kommt Befehl, dass geräumt werden muss. Das ganze Dorf hat beschlossen zu bleiben.
4. Mai:
Deine Mutter will mit Dir flüchten.
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Kurz vor der später abgebrochenen Flucht aus Meißen |
6. Mai:
Mit einer Frau Kaggert aus Duisburg treten wir die Flucht an. Einen großen schweren voll beladenen Wagen müssen wir ziehen. Es ist Sonntag 9 Uhr morgens, es regnet in Strömen. Ich habe keine Lust, aber Mutti drängt so und so geht es dann ab.
Du armer Kerl warst so lieb, als ahntest Du was los war.
Die Artillerie schoss wie toll (wild, Anm. H.G.E.), der Wagen war schwer und es ging immer bergauf, bergab. Sehr oft blieben wir stehen und mussten in Deckung gehen. Unsere Soldaten warnten uns, wie sollten in ein Haus zu gehen, doch wir fuhren weiter. Als wir zehn Kilometer hinter uns hatten bekamen wir Wagenbruch, das linke Hinterrad brach ganz entzwei. Es kam wohl daher, dass der Wagen überladen war.
In Munzig, so hiess das Dorf, direkt an einem Bauernhof passierte es. Wir fragten den Bauern ob wir unsere Sachen unterstellen dürften, er bot uns die Scheune an. Schnell luden Frau Kaggert und ich die Sachen ab. Dann nahmen wir das Allernotwendigste im Rucksack mit und weiter ging die Tour. Doch zuerst erbaten wir uns in einer Bäckerei eine Tasse Kaffee und aßen ein Brot dazu. Dich kleiner Kerl machten wir trocken und gaben Dir etwas zu trinken.
Dann ging es weiter, ich konnte kaum voran kommen mit dem Rucksack. Einige Soldaten die in gleicher Richtung gingen, nahmen unser Gepäck für einige Zigaretten mit. So ungefähr 5 Kilometer, dann bezogen die Soldaten Stellung in Schmiedewalde, so hieß das Nest. Nun standen wir wieder da mit unserem Rucksack, ich war auch nicht im Stande den Rucksack weit zu tragen. Es regnete und der Beschuss war nach wie vor wie stark. Eine Angst hatten wir, kaum zu beschreiben.
Als wir so 50 Meter gegangen waren kam ein großer Bauernhof, der auf einer Anhöhe lag. Dort wollten wir zunächst einmal Schutz suchen. Als wir denselben bald erreicht hatten, merkten wir, dass der Hof unter Beschuss stand. Es war ein Gefechtsstand von uns. Die Soldaten liefen wie wild hin und her, verwiesen uns weiter zu gehen. Der Bauer selbst mit Frau, Kindern und Angehörigen stand mit dem Wagen zur Flucht bereit. Wir baten mitgenommen zu werden, das wurde uns abgeschlagen.
Nun mussten wir uns wieder selbst helfen, stahlen uns einen Leiterwagen, auf den wir unser Gepäck luden und dann ging es weiter. Wie gerne hätten wir Dir kleiner Kerl etwas zu trinken gegeben, aber wir hatten ja nichts.
Wenn Du eine Zeit geweint hast, bist Du mal wieder eingeschlafen. Der Regen hörte nicht auf, die Artillerie schoss, alles war freies Gelände. Am schlimmsten war es, wenn wir über die Höhen mussten, wie leicht hätte da Dein Wagen als Zielscheibe dienen können. Das war immer meine größte Sorge. Deiner Mutter habe ich meine Gedanken nicht verraten, denn sie war sehr aufgeregt und ich fürchtete immer ihr Herz würde nicht durchhalten.
Ab und zu kamen wir dann wieder an ein Haus, wollten dann auch mal Deckung nehmen weil die Einschläge ganz nahe waren. In einem Haus wurde uns sogar der Eintritt verwehrt, die richtigen Hausbewohner wären geflüchtet und er dürfe niemanden hereinlassen. Wir waren verzweifelt und sind weiter gegangen, mussten alles dem Schicksal überlassen. So waren unsere Gedanken.
Bis auf die Haut waren wir nass, unsere schönen Herrenhüte konnten wir nicht mehr auf dem Kopf behalten, die haben wir fort geworfen und uns Tücher um den Kopf gebunden. Dir, klein Heinzchen, hatten wir Mutters Regenmantel über das Verdeck gehängt, das war auch alles durch und durch nass. Wir wussten uns keinen Rat mehr.
Jetzt führte unser Weg direkt durch einen Bauernhof, dort lagen einige Soldaten von uns. Die beschenkten uns mit Bonbons und Büchsengemüse. Auch holten wir uns einen Liter Milch, damit wir am Abend für Dich etwas hatten.
Die Wege waren so sehr aufgeweicht durch den Regen, dass wir kaum voran kamen. Aber der Kanonendonner trieb uns weiter. Frau Kaggert mit Anhang kam nicht voran, so gerieten wir auseinander.
Gegen 6.30 Uhr abends erreichten wir das Dorf Blankenstein. Dort machten wir unter Bitten und Flehen Quartier. Das Haus gehörte einem Tischlermeister. Da seine evakuierten Leute schon geflüchtet waren, wurde uns die Aufnahme gewährt. Natürlich nur in der Küche. Zuerst zogen wir uns einmal die nassen Sachen aus, dann versorgten wir Dich kleiner Mann. Es war Dir eine Wohltat, dass Du mal wieder trocken gelegt wurdest. Auch Die Abendbrot hat Dir geschmeckt, obwohl es nur Kaffee mit Milch war.
Mutter und ich nahmen auch unser Abendmahl ein, bestehend aus einem Stück Wasserkuchen und einer Tasse Kaffee, die wir uns noch erbitten mussten. Der Tischlermeister mit Frau und Tochter aßen zur gleichen Zeit mit uns, deren Abendbrot bestand aus gebackenen Eiern, Schinken und Brot.
Wie arm kamen wir uns dagegen vor, aber wir waren ja so erschöpft, dass wir von allem kaum Notiz nahmen. Uns wurde die Bank in der Küche zum Schlafen angeboten. Freudig nahmen wir das Angebot an. Zum Schlafen kamen wir aber nicht, denn bis 12 Uhr hatten wir Soldaten in der Küche, die auf Befehl warteten. Dazwischen der schwere Artilleriebeschuss, der immer näher kam. Die Soldaten erklärten uns, dass der Russe schon ganz in der Nähe sei und sie bald ausreissen würden. Wir baten sie uns mitzunehmen, dies wurde uns verwehrt. Als die Soldaten nun fort waren, die Einschläge kamen immer näher, sprangen wir immer von unserem Lager auf. Wir waren ganz verzweifelt, denn die Angst um Dich, Heinz Georg, war groß. Du warst die ganze Nacht so unruhig, als wusstest Du was auf uns zu kam!
7. Mai:
Fünf Uhr morgens, alles ist auf den Beinen. Obwohl man todmüde ist, kann man nicht schlafen.
Als wir uns gewaschen und Kaffee getrunken hatten, es war gegen sieben Uhr, da kamen die ersten russischen Panzer. Eine große Angst überfiel uns. Deine Mutter war wie von Sinnen. Schnell zogen wir ein Kopftuch an und setzten uns auf einen Stuhl.
Dann kommt auch schon ein Russe herein und verlangt ein Glas Wasser, schaut sich um und geht wieder! Nun kommen sie am laufenden Band, wir sitzen wie Wachsfiguren und behalten alle im Auge. Zwei davon, einer ganz verwegen aussehend, setzen sich zu uns und entladen ihre Gewehre, gleich darauf laden sie dieselben wieder.
Unsere Angst war groß, wir dachten nun ist es aus mit uns. Doch sie stellten ihre Gewehre in die Ecke und schauten uns immer an und unterhielten sich, was wir ja nicht verstanden. Die größte Angst hatten wir überstanden. Jetzt ging es in den Keller, dort haben sie alles geräubert.
Wir hatten unsere Sachen in der Küche unter dem Tisch stehen, uns haben sie aber nichts genommen. Du, kleiner Heinz warst so ruhig. Gegen 9.30 Uhr fragten wir einen russischen Kommissar, ob wir wieder nach Meißen laufen könnten, der sagte ja, aber es sei gewagt weil so viele Truppen folgten. Wir haben uns aber nicht lange besonnen und traten unseren Heimweg zum Semmelsberg an.
Während Du vergnügt im Kinderwagen lagst, fuhren wir an Truppen vorüber. Das Herz klopfte uns beim Anblick mancher Russen, sonst sahen wir keine anderen Menschen. Es half alles nicht, wir mussten ja weiter, der Verkehr war oft so stark, dass wir mit Deinem Kinderwagen kaum vorbei kamen. An einer starken Biegung wurden wir von einem schweren Panzerauto gerammt. Der Kinderwagen flog um, Du kleiner Kerl lagst vor den Rädern. Mit Geistesgegenwart hob ich Dich hoch und so wurdest Du gerettet. Das Wagendeck war ganz kaputt. Der Leiterwagen welchen Deine Mutter fuhr war auch umgestürzt, hatte aber nicht weiter gelitten. Gott sei Dank! Wie hätten wir auch voran kommen sollen, da wir ja noch 15 Kilometer Weg vor uns hatten.
Lange hatten wir gebraucht bis wir uns vom Schrecken erholt hatten, dann ging es weiter bis Munzig. Hier hatten wir unsere Sachen nach dem Wagenbruch untergestellt. Leider fanden wir nur noch einen kleinen Teil von unseren Sachen, auch den Rest Lebensmittel hatten die Russen mitgenommen. Deine Sachen waren alle fort, unsere Koffer alle kaputt geschnitten. Was ich noch gefunden habe, konnte ich zusammenpacken und auf unseren Leiterwagen legen. Nachdem wir Dich lieber Schatz bei den Leuten erst einmal trocken gelegt hatten und Du Deine Flasche mit Wasser und Grieß getrunken hast, fuhren wir weiter. Außer Russen begegnete uns keine Menschenseele.
Zum Denken kamen wir gar nicht. Da, auf einmal lag ein Hufeisen vor Deiner Mutter. Das gab uns Mut, ich sagte wir kommen nach Hause. Es dauerte nicht lange, und ich fand ebenfalls eines. Ich habe es auch aufgehoben und mitgenommen. Nun war ich froh und glaubte an eine glückliche Heimkehr. Sechs Kilometer noch, da begegnet uns ein Landser in Zivil. Ich lud ihn ein mit uns zu gehen. Er war einverstanden und ging den ganzen Weg mit uns, obwohl er stark hinkte. Wir waren froh, einen Mann bei uns zu haben, so kamen wir gegen 7 Uhr abends auf dem Semmelsberg an.
Es war gut, dass wir die Flucht unternommen hatten, denn so wie uns die Semmelsberger erzählten, haben die Russen schrecklich gehaust. Tante Martha, Minna und andere sind einen Teil Ihrer Sachen beraubt worden. Von unseren Sachen, die wir zurück gelassen hatten, war auch nur noch ein Teil da. Zwei Frauen aus dem Haus sind vergewaltigt worden.
11. Mai:
Heute sind wir wieder nach Meißen gefahren mit unserem Leiterwagen und Dir im Kinderwagen. Du warst frohen Mutes, denn es war ja herrliches Wetter.
Meißen bot uns ein anderes Bild. Viele vom Artilleriebeschuss getroffenen Häuser waren zerstört. Die Straßen unsauber, alles wimmelte von Russen, sonst war kein Mensch zu sehen. Nun überkam uns wieder die Angst. Diese wurde noch erhöht, denn wir waren kaum zu Hause angekommen, da waren auch schon die Russen an der Tür und wollten herein. Unsere Wohnung war ganz durchwühlt, alles lag bunt durcheinander.
Auf der Straße durfte man sich nicht sehen lassen. Abends gingen wir nebenan bei Trensch schlafen. In der Nacht wurden wir durch heftiges Schiessen geweckt. Gleichzeitig hörten wir die Russen in verschiedene Häuser eindringen, so auch bei uns gegenüber. Gezittert und gebetet haben wir alle und kamen nicht mehr zum Schlafen.
Du, kleiner Mann hast gut geschlafen.
12. Mai:
Das Schlimmste ist, dass wir für Dich, kleiner Liebling, keine Milch haben, immer bekommst Du nur Milch mit Wasser. Mutter und ich haben nur trockenes Brot. Die Russen kommen sehr oft und versuchen hereinzukommen.
14. Mai:
Heute mussten wir wieder welche hereinlassen. Gestern haben sie nebenan durch die Fenster geschossen, als man ihnen den Zutritt verwehrte. Zwei Russen kamen herein und durchsuchten das ganze Haus. Deine Mutter und Tante Maria habe ich schnell unbemerkt aus dem Haus gelassen. Als ich ihnen sagte: Kind schläft, sind sie wieder gegangen. Dann habe ich Mutter und Maria aus ihrem Versteck geholt.
15. Mai:
Man merkt wie es von Tag zu Tag ruhiger wird.
16. Mai:
Der Tag verlief ruhig, für uns wie hinter Gitter, denn die Straße können wir immer noch nicht betreten. So gingen wir dann schlafen, obwohl von Angst geplagt. Dem Einschlafen nahe, wurden wir durch Pfeifen geweckt, es war unser Opa! Die Überraschung war für uns so groß, dass wir es gar nicht fassen konnten. Opa kam mit dem Fahrrad aus Mitteldeutschland. Müde und abgespannt sah er aus und wir konnten ihm noch nicht einmal was zu essen geben, da wir selbst nichts hatten. Aber ein paar Zigaretten, die wir aufbewahrt hatten, taten da gute Dienste.
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Endlich - Opa Hermann ist wieder bei uns! |
17. Mai:
Der Opa holte zuerst auf der Partei etwas zu essen für uns. Für Dich waren Plätzchen dabei.
18. Mai:
Wir fühlen uns nun beschützt und haben nicht mehr soviel Angst. Jetzt gehe ich schon wieder auf die Straße, doch die Geschäfte sind alle geschlossen.
19. Mai:
Jetzt denken wir nur an die Heimat, aber wie fortkommen? Die ganzen Brücken sind gesprengt und wir haben große Sorge um Dich. Heute war ich zum Rathaus, dort konnte man uns auch keine Auskunft geben.
20. Mai:
Opa geht hamstern, damit wir etwas zu essen haben. Fett oder Butter haben wir schon wochenlang nicht gesehen. Für Dich bekommen wir jetzt ab und zu Milch.
22. Mai:
So vergeht ein Tag nach dem anderen. Unsere Sachen, welche wir noch besitzen, habe ich alle in Kartons eingepackt, alles ist reisefertig. Ein großer Schrecken, Deine Mutter hat sich Läuse eingefangen. Nun ist große Aufregung, auch ich und Du haben welche. Wir sind unglücklich.
25. Mai:
Die Läusejagd ist zu Ende. Der Russe ist ruhiger geworden, trotzdem haben wir noch mächtig Angst. Du bist munter und fidel.
30. Mai:
Bei uns steht nur noch die Heimreise auf dem Programm. Augenblicklich werden die Polen hier durchgeschleust. Mit dem Kinderwagen können wir uns nicht sehen lassen, sonst bekommen wir ihn abgenommen.
1. Juni:
Das Tageblatt veröffentlicht heute, dass alle Evakuierten bis Ende des Monats Meißen verlassen müssen, da es sonst keine Lebensmittelkarten mehr gibt.
2. Juni:
Neuer Bericht im Tageblatt: Alle Flüchtlinge müssen ihre Heimreise zu Fuß antreten. Jetzt haben wir wieder Sorgen um Dich. Mit Dir auf der Landstraße ziehen ist nicht so einfach.
3. Juni:
Wir rüsten für den Heimweg. Unsere Wagen werden in Stand gesetzt. Einige Frauen kommen und wollen sich anschliessen.
4. Juni:
Heute wurde beschlossen, am 20. Juni morgens acht Uhr soll sich der Treck in Bewegung setzen. Wir sind 15 Personen und 8 Leiterwagen.
20. Juni:
Weil einige Wagen aufgehalten wurden, wurde es 11 Uhr bis wir endlich abmarschierten. Du kleiner Goldschatz lagst froh und munter in Deinem Wagen. Mir wurde es nach kurzem Weg schon schlecht vor Hitze, so dass die ganze Kolonne halt machen musste. Dann ging es aber weiter , bergauf und bergab. Gegen Abend erreichten wir Heyda bei Riesa. Dort übernachteten wir. Opi musste in der Badewanne schlafen. Deine Mutter und ich zusammen auf einer Couch. Nachdem wir unser spärliches Abendbrot eingenommen hatten und Du kleiner Mann auch versorgt warst, legten wir uns zur Ruhe.
21. Juni:
Um 8.30 Uhr ging es weiter bis Riesa. Unterwegs musste der Opa verschiedentlich Wagen reparieren, darüber war er sehr böse. Um 10 Uhr waren wir endlich in Riesa. Dort erbettelte ich mir zuerst eine Tasse Kaffee. Dann ging es zum Flüchtlingslager zum Empfang des Essens.
Leider konnten wir mit Dir Liebling nicht im Lager speisen, es war mir zu unsauber, deshalb haben wir es vorgezogen auf der Straße zu essen. Für Dich habe ich bei fremden Leuten etwas gekocht. Es war ein heisser Tag. Dir bekam die Hitze schlecht, als wir auf dem Weg zum Bahnhof waren. Du bekamst eine Art Hitzschlag. Gott sei Dank war es aber schnell wieder behoben. Um 16.40 Uhr fuhren wir dann ab Riesa bis Döbeln, um 6 Uhr war Ankunft, Quartier im Flüchtlingslager. Doch ich ging auf Suche nach einer anderen Unterkunft für Dich, kleiner Mann. Bei einem Zuckerfabrikanten fanden wir für Mutter, Dich und mich herzliche Aufnahme. Zuerst konnten wir Dich baden und versorgen, dann wurden Mutter und ich zum Abendbrot eingeladen. Es hat uns sehr gut geschmeckt, dann durfte ich Opa noch eine gute Suppe ins Lager bringen.
Als ich zurück kam brachte uns das Mädchen eine Schüssel voll gezuckerte Johannisbeeren. Danach legten wir uns zu Bett. Um 5 Uhr morgens war Aufbruch, um 8.26 Uhr fuhren wir mit dem Zug nach Mügeln. 10 Uhr war Ankunft, Weiterfahrt in Richtung Neichen bis Cannewitz, Ankunft 16 Uhr. Nun ging es wieder zu Fuß weiter bis Dorna, 2 Kilometer vor dem Muldeübergang.
In Dorna um 9 Uhr abends angelangt, standen wir mit Dir, kleiner Liebling, auf der Straße. Es war keine Unterkunft zu bekommen, alles war von Flüchtlingen belegt. Wir bekamen vom Bürgermeister eine Scheune angewiesen, wo sich 60 Flüchtlinge mit 15 kranken Kindern befanden. Dies lehnte ich sofort ab, begab mich nochmals auf die Suche nach einem Quartier. Doch alles war vergebens, alles besetzt. Ich bat dann in einem Haus im Hausflur schlafen zu dürfen, das wurde uns dann gewährt.
23. Juni:
Mein Geburtstag.
Geschlafen hatten wir gut, obwohl Deine Mutter und ich auf dem Steinfußboden gelegen haben, wir waren ja so müde. Nun wurdest Du zuerst versorgt, dann erlaubten mir die Hausbewohner Deine Tücher zu waschen. Mitten in der Arbeit platzte der Opa herein und sagte:
fertigmachen wir kommen heute über die Brücke.
Schnell habe ich die Tücher ausgespült, alles fertiggemacht, dann ging es ab. Alle waren hoch und froh gestimmt. So legten wir die 2 Kilometer in kurzer Zeit zurück. Vor der Brücke angelangt, mussten wir uns zu den anderen Flüchtlingen begeben, und der Dinge abwarten, die da kommen sollten. Deine Mutter und ich waren sehr aufgeregt. So verging Stunde um Stunde. Wir sahen keine Änderung.
Notdürftig haben wir für Dich etwas gekocht und zwar draussen auf zwei Steinen. Dir hat es gut geschmeckt, das war unsere Freude.
Ganz verzweifelt sitzen wir da, unsere Gedanken weilen schon in der Heimat. Da kommt der Opa angestürmt, sofort fertigmachen, wir kommen herüber!
Um 18 Uhr kamen wir dann tatsächlich mit falschen Papieren über die Brücke. Tante Martha und andere konnten nicht mit, blieben dort liegen. Wie eine Erlösung von den Fesseln haben wir aufgeatmet, als wir in Grimma waren. Dort machten wir bei dem Platzwart von TuS Jahn im Clubhaus Quartier. Blieben über Sonntag und Montag ging es weiter.
25. Juni:
Um 6.13 ging es ab Grimma mit dem Zug nach Leipzig, Ankunft 2.45 Uhr und um 8.16 Uhr weiter nach Halle, Ankunft 9.45 Uhr. Um 13.20 Uhr ging es weiter und wir waren um 5.45 Uhr in Nordhausen, hier trafen wir Walter Kraft aus Duisburg. Da wir keine Verbindung mehr bekamen, mussten wir im Kaliwagen übernachten. Beim Roten Kreuz haben wir für Dich etwas fertig gemacht. Deine Tücher habe ich auf dem Bahnsteig unter Wasserhähnen gewaschen. Die Nacht war schrecklich in dem Wagen. So viele Menschen waren darin, dass man kaum Platz hatte zum Sitzen. Dir hat es Gott sei Dank nichts ausgemacht, Du hast recht gut geschlafen.
27. Juni:
Der Tag fängt an zu grauen, wir können nicht heraus aus dem Eisenbahnwagen. Um 5.40 Uhr geht es dann doch weiter nach Northeim. Du kleiner Mann meldest Dich, nun wissen wir uns keinen Rat. Dein Bitten wird immer stärker. Da nimmt Deine Mutter etwas Kaffee in ihren Mund um ihn so gewärmt zu geben.
Darin bestand Deine Mahlzeit. Es hat uns sehr weh getan. Selbst besaßen wir noch ein kleines Stück Brot, welches wir dann noch an zwei entlassene Landser verschenkten. Um 9.30 Uhr erreichten wir Northeim, dort mussten wir bis um 15.37 Uhr auf die Weiterfahrt warten. Zunächst ging ich jetzt mal ein Haus suchen, wo ich für Dich etwas kochen konnte, denn um den Bahnhof herum lag alles in Trümmer. Eine gute Viertelstunde musste ich laufen, dann fand ich eine gute Seele die mir erlaubte gleich zwei Flaschen und etwas Brei für Dich zu kochen. Dann hast Du froh und vergnügt Deine Mahlzeiten eingenommen.
Gegen 14 Uhr wurde auf dem Bahnhof dann ausgerufen, dass sämtlicher Bahnverkehr in Deutschland gesperrt ist. Wir setzten uns sofort zu Fuß in Marsch und kamen am Abend bis Hohenstedt. Dort hatten wir großes Glück, denn wir bekamen ein feines Quartier und herrliches Abendbrot. Nach sehr langer Zeit ein richtiges Essen: Hühnersuppe, Bratkartoffeln mit Eiern und Rhabarber und eine Schüssel Kirschen.
29. Juni:
Sechs Uhr morgens, es geht weiter. Hildegard kommt schlecht voran, da sie ihre ganzen Hacken wund gelaufen hatte. Teils läuft sie barfuß.
Heute gab es wieder kein Mittagessen, nur Du, kleiner Mann, wurdest versorgt, wenn Deine Zeit da war. Opa wurde uns krank und wir kamen kaum weiter. Um 19 Uhr erreichten wir Dassel, dort machten wir Halt bei einem Bauern und erhielten Unterkunft. Wir waren so erschöpft, dass wir vorerst nicht weiter konnten. Der Bauer war geizig. Er hatte für Dich, kleiner Schatz, kaum einen halben Liter Milch. Mutter und ich haben dann gearbeitet, damit wir etwas zu essen bekamen.
1. Juli:
Wir wurden dann mit einem Auto mitgenommen. Um 5 Uhr fuhren wir in Dassel ab und waren um 22 Uhr in Köln. Das Auto war ein großer offener Lieferwagen mit vielen Menschen und ihrem Gepäck darauf. Opa hing an der Seite und hielt sich mit der Hand fest. In Köln haben wir nochmals gute Aufnahme gefunden.
2. Juli:
Morgens um 7 Uhr fuhren wir in Köln ab und waren um 9 Uhr endlich wieder in Duisburg. Unsere Freude war groß als wir unser Haus noch stehen sahen. Unsere Wohnung sah ja böse aus, aber die Möbel waren noch erhalten geblieben. Ein Teil unserer Sachen war uns gestohlen worden. Nun hieß es auf der Erde schlafen, da die Betten noch nicht aufgestellt werden konnten.
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Die grün markierte Linie zeigt die Fluchtroute zurück von Meißen nach Duisburg, es waren mehr als 600 Kilometer.
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10. Juli:
Edi, Opas Bruder, kommt aus der Gefangenschaft zurück und hat kein Heim mehr. Wir laden ihn ein mit uns auf der Erde zu schlafen, vier Personen in einer Reihe.
11. Juli:
Heute schlafen wir dann zu 5 Personen, denn Leni kommt aus Heidelberg zu uns.
12. Juli:
Eine neue Wohnung ist gefunden, muss aber noch aufgebaut werden. Opa geht mit frohem Mut an die Arbeit.
27. Juli:
Anderthalb Zimmer sind fertig und wir ziehen in unser neues Heim.
Von Deinem Vater hören wir nichts, ob er noch lebt?
29. Juli:
Uroma kommt aus Berlin, hat auch kein Heim. Wir nehmen sie auf. Unsere Küche steht noch unter freiem Himmel, die Arbeit geht langsam voran. Du, kleiner Kerl, bist munter und freust Dich über alles und weisst nicht, was wir für Sorgen haben. Der Kampf um das tägliche Brot ist schrecklich. Die größten Sorgen sind um Dich, damit wir Dich satt bekommen.
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Im Garten Fischerstraße 81, Duisburg-Wanheimerort: Mutti, Oma Käte und Uroma Mattern |
November 1945:
Onkel Georg ist gekommen.
Morgens um 5 Uhr muss ich mich anstellen für Gemüse, Fleisch und vieles andere. Unser täglicher Mittagstisch besteht aus Steckrübensuppe mit Graupen oder Mehlschwitzen. Ein Pfund Mehl kostet 20 RM. Ein Pfund Fleisch kostet 25 RM. Die Preise sind so hoch, dass die Spargroschen immer weniger werden.
Keine Kartoffeln zu bekommen, es ist zum Verzweifeln. Deine Mutter und ich leisten uns vor lauter Hunger mal ein halbes Lot Bohnenkaffee für 10 RM!
1. Dezember:
Ur-Uroma kommt auch noch. Nun sind wir 7 Personen. Ich weiss nicht was ich auf den Tisch bringen soll, um alle satt zu kriegen.
Weihnachten 1945:
Für Dich machen wir einen Weihnachtsbaum, Du hast aber noch wenig Verständnis dafür.
Unser sehnlichster Wunsch war, dass nun bald Dein Vater kommen sollte, da wir jetzt Nachricht hatten, dass er lebt.
Alles Erdenkliche wurde auf dem Schwarzmarkt gekauft und so hatten wir Weihnachten 1945 wenigstens gut zu essen.
Schlusswort:
So fand die Flucht von Duisburg nach Meißen und zurück nach Duisburg ein glückliches Ende. Mein Vater Heinz war von 1944 bis 1946 in amerikanischer und anschliessend noch in englischer Gefangenschaft und kehrte erst im März 1948 zurück.
Bald danach zogen meine Mutter, mein Vater und ich nach Remscheid. Hier lebten wir lange Jahre.
Opa Hermann starb 1971, Oma Käte 1985 und mein Vater Heinz 1981.
Meine Mutter Hildegard lebte die letzten 8 Jahre in einem Pflegeheim in Radevormwald und verstarb am 01.05.2010.
Mein Sohn Dirk wohnt mit seiner Familie in Remscheid und ich mit meiner Frau Sabine seit fast 30 Jahren in der Nähe von Hamburg.
Aus der alten Preißler-Linie lebt nun niemand mehr.
Tante Leni (Helene Preißler, geb. am 26.7.1907), verstarb am 15.06.2010 im gesegneten Alter von fast 103 Jahren. Sie war die Ehefrau von Opa Hermanns Bruder Eduard.
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Mit meinen Eltern 1948 nach der Rückkehr meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft |
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Die große Preißlerfamilie - einige waren auf der Flucht dabei |
Von links nach rechts:
Heinrich Hölling, Karl Preißler, Tante Martha, Paul Preißler, Tante Frieda, Opa Hermann, Onkel Eduard, Tante Lina, Tante Leni, Tante Minna, Tante Käte, Onkel Josef, Oma Käte.
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links: 1946 - Heinzchen und Mutti
rechts: 2003 - Mutter und Sohn |
Zum Hintergrundbild:
Links meine Mutter Hildegard mit mir auf dem Arm, im Sommer 1945.
Auf der rechten Seite Oma Käte und meine Mutter in ängstlicher Erwartung kurz vor dem befreienden Gang über die Brücke des Flusses Mulde in der Nähe von Dorna, am 23. Juni 1945.
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Meißen heute
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Zum Abschluss noch ein mahnendes Wort an alle Politiker:
Krieg dürfte es gar nicht geben, nur als allerletztes Mittel.
An meiner kleinen wahren Geschichte kann jeder erkennen, wieviel Leid und Elend jede Art von Krieg anrichten wird.
Heinz Georg Elender
31. Dezember 2003
Inhalt und Idee:
Heinz Georg Elender
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Gestaltung: Sabine Elender
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