Sabine Bärwald

Verschickung in das Kurheim Nordseeanstalt St. Peter-Ording "Goldene Schlüssel" 1965




Ich war ein Verschickungskind.
Eines von den Vielen, die Jahre und Jahrzehnte geschwiegen hatten.
Weil niemand ihnen damals glaubte und auch heute öffnet sich erst langsam die Erinnerung und das Verdrängen des Erlebten. So ähnlich war es auch bei mir. Ich suche nach ehemaligen Mitpatient-Innen oder Betreuerinnen von 1965 aus der Nordsee-Kuranstalt des DRK "GOLDENE SCHLÜSSEL".
MEINE Geschichte erzähle ich weiter unten im Text.

Durch einen Bericht im Hamburger Abendblatt vom 8./9. August 2020 wurde ich auf die Reportage
"Gequält, erniedrigt, drangsaliert - Der Kampf ehemaliger Kur-Kinder um Aufklärung" am 10. August 2020 aufmerksam.
Ich war also nicht allein mit meinen schrecklichen Erfahrungen, es gibt unfassbar viele Schicksale.

Ab dann begann ich, meine Verschickung näher zu betrachten. Es ist noch viel Material vorhanden: Karten, die ich an meine Eltern geschrieben hatte, Karten von meinen Eltern, bürokratische Nachweise. Nach meiner Rückkehr Kinderzeichnungen von mir von weinenden Sonnen, schwarzem dichtbuschigem Rauch aus den Schornsteinen der gemalten Häuser, und Wege, die nicht weiterführen, sondern im Nirgendwo enden.
Bald hatte ich viel recherchiert und möchte die folgende Internetplattform empfehlen:

Verschickungsheime.de


Auszug aus der Seite:

SELBSTVERSTÄNDNIS: Wir sind die bundesweite Bewegung der Verschickungskinder. Wir existieren seit Sommer 2019.
Wir bilden mit vielen Einzelpersonen, bisher zwei Landes-Vereinen und zahlreichen Heimort- und Landesgruppen seit 2019 die für alle Betroffenen von Kinderverschickung offene „Initiative Verschickungskinder“. Bei uns wird man per Akklamation aufgenommen und muss keinen Beitrag zahlen. Weil wir Millionen sind. Jede und jeder gehört dazu, der unsere jährliche Kongresserklärung anerkennt.
Wir wollen etwas zur Aufklärung über das Verschickungselend tun und wir sammeln uns inErinnerungs-Austauschgruppen in vielen Bundesländern. Wir werden vom wissenschaftlichen Begleitverein „Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V. in der Forschung und der Vernetzung unterstützt, unsere Seite ist diese: Verschickungsheime.de Unter: bekommen Sie die vollständige Heimliste aller Verschickungsheime von 1964 zugesandt, es sind 1143 Einrichtungen. Unsere Landes- und Heimortgruppen arbeiten an der ständigen Ergänzung dieser historischen Liste durch eigene Recherchen. Die Listen der Heime werden immer umfangreicher. Unterstützen Sie unsere Recherchen und unsere Vernetzung.
Bei Facebook findet ihr uns unter: „Verschickungskinder Deutschland“ und wir haben auf unserer Seite auch ein Forum zur eigenständigen Unterhaltung und zum Austausch.


Anja Röhl hat ein erstes Grundlagenbuch über die gigantische Verdrängung einer kollektiven Traumatisierung von Millionen von Kindern durch Verschickungen geschrieben.
Dank ihrer Beharrlichkeit und dem Mut zahlloser Betroffener beginnt nun die so notwendige Aufarbeitung.

Zwischen den 1950er und 1990er Jahren wurden in Westdeutschland zwischen acht und zwölf Millionen Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren auf kinderärztliches Anraten und auf Kosten der Krankenkassen ohne Eltern zur »Erholung« verschickt. Während der meist sechswöchigen Aufenthalte an der See, im Mittelgebirgsraum oder im Hochgebirge sollten die Kinder »aufgepäppelt« werden.
Tatsächlich erlebten sie dort jedoch oft Unfassbares: Die institutionelle Gewalt, die sich hinter verschlossenen Türen ereignete, reichte von Demütigungen über physische Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch. Betroffene leiden noch heute an den Folgen der erlittenen Traumata.

Anja Röhl gibt den Verschickungskindern eine Stimme und möchte die Träger ehemaliger Verschickungsheime in die Verantwortung nehmen. Sie zeigt, welches System hinter den Kinderkuren stand, und geht möglichen Ursachen für die dort herrschende Gewalt nach. Das Buch ist ein erster großer Schritt zur Aufarbeitung eines bisher unerforschten Bereichs westdeutscher Nachkriegsgeschichte und zur Anerkennung des Leids Betroffener.

Im März 2022 war ich bei einer Lesung von Anja Röhl, die ihr neues Buch "Heimweh - Verschickungskinder erzählen" in einer beeindruckenden Mischung aus Erzählung, Lesung und Diskussion vorstellte.





Hier ist MEINE Geschichte:

Als 8-Jährige wurde ich vom 6. August bis zum 17. September 1965 in die Nordsee-Kuranstalt des DRK "GOLDENE SCHLÜSSEL" mit einem "Sammeltransport" von der Reise-Organisation "Schneiderhöhn" verschickt. Ein Amtsarzt hatte mir damals die Verschickung verpasst, weil ich zu dünn und zart war. Meine Eltern glaubten ihm.

Im "GOLDENE SCHLÜSSEL" erlebte ich die Hölle. Die Heimleiterin war damals Liesi Gebhardt, genannt "Gebchen". Chefarzt war Dr. Karl-Georg Lexow. Zu dieser Zeit gab es keine Abteilungsärzte und keine Assistenzärzte. Meine "Tanten" - so mussten wir die Betreuerinnen nennen - waren Tante Helga und Tante Annelene (Glashoff).

Diese Zeit wurde die Katastrophe in meinem Leben. Ich wurde von den anderen Kindern verhöhnt, gehänselt, beklaut und geschlagen, verprügelt, auch nachts. Und die Aufseherinnen beleidigten mich, stellten mich bloß, beschimpften, drohten und erniedrigten mich - und andere Kinder auch - ich fühlte mich völlig entwertet. Eine so immense Angst wie dort habe ich in dieser Qualität nicht wieder im Leben erlebt, außer in der Aufarbeitung dessen. Diese Ängste vor den anderen Kindern, vor den Tanten, vor dem Unwägbaren, der einsamen Fremde und den schrecklichen Ohnmachtsgefühlen haben mein Leben bis heute verändert. Es gab niemanden, dem ich das erzählen konnte, denn es wurde mir nicht geglaubt. Nach diesen vielen Jahren, nachdem ich zahllose Berichte gelesen und gesehen habe, wird deutlich, dass es den meisten Verschickungskindern ähnlich ging. Es herrschte eine Kultur des Schweigens, ein bösartiger Rest des Geistes des Nationalsozialismus.

An die Hinfahrt erinnere ich mich nicht. Am Ankunftstabend wurden die "Neuankömmlinge" im Essensraum einer öffentlichen Befragung unterzogen. Vor Schreck und Angst konnte ich nicht antworten und wurde dann sofort von den Betreuerinnen und den anderen Kindern als "stummes Eselchen" verhöhnt. So ging das tagelang. Mir wurden meine "Tröstetiere" weggenommen, mein kleines Schlafkissen, mein Sonnenschutzkäppi und meine ganze Wäsche. Ein Päckchen für mich wurde geöffnet und auf den Inhalt geprüft. Die Süßigkeiten wurden entnommen und an die anderen Kinder verteilt. Das sollte als Exempel dienen, dass man keine Süßigkeiten geschickt bekommen darf. Auf oder an dem Terrain der "Goldene Schlüssel" befand sich ein großes natürlich belassenes Areal, mit feinstem Sand, die große Dünenmulde vor Haus Kiek Ut. Ich schaute den anderen Kindern traurig bei deren Spielen zu, ich durfte nicht mitspielen, als Strafe. Wofür, erinnere ich mich nicht mehr, ich war nicht nur unglücklich, ich war verzweifelt.

Solange ich zurückdenken kann, malte ich gern und viel. Ich bat meine Mutter in einer Karte um Papier und Buntstifte. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht. Ich habe nur den Beweis, dass ich auf Toilettenpapier gemalt habe. Einige Karten, die ich mit Bleistift an meine Eltern geschrieben hatte, wurden ausradiert und ich angewiesen, sie "hübscher" zu schreiben, oder die Tanten schrieben sie neu. Meine Eltern haben sie alle aufbewahrt und der Unterschied in den Schriften ist klar erkennbar.

An die Nächte erinnere ich mich nicht. Ob hier auch Beruhigungs- oder Schlafmittel wie in anderen Verschickungsheimen gegeben wurden, weiß ich nicht. Ich kannte das widerspruchslose Ausführen von Anweisungen - ohne Nachfragen - von meinem Elternhaus, deswegen ist es möglich. Auf einer ihrer Karten wiesen sie mich an:
"Und sei nett zu allen". Zu dem Essen kann ich auch nichts sagen - weder zu dem WAS? noch zu dem WIEVIEL? Von zuhause kannte ich nur: "Was auf dem Teller liegt wird aufgegessen!" Vielleicht hat mir diese Verinnerlichung Schlimmeres erspart. Nachmittags wurden wir in die Betten geschickt und ich erinnere mich an ein Verbot, sich zu rühren. Die wenigen Spaziergänge - exakt in Zweierreihen - waren gespickt mit Piesackereien der Begleiterinnen. Ich erinnere mich an Mädchen, - eine hieß Susi - die schlimme Faulecken hatten.

Noch Jahrzehnte später hatte (und habe) ich Träume, in denen ich auf einer Toilette sitze, die gläserne oder gar keine Wände hat, und jeder kann mir dabei zusehen. Nie hatte ich mir diese merkwürdigen Träume erklären können. Bis ich schockartig realisierte, ich hatte während meines Aufenthaltes nachts ins Bett genässt und musste danach entblößt vor allen anderen weiblichen Kindern eine ganze Zeit so dastehen und Strafpredigt und Verhöhnung aushalten.Erst vor Kurzem habe ich entdeckt, dass meine merkwürdigen "Toilettenträume" Überbleibselerinnerungen an diese furchtbare Zeit sind.

Meine Eltern, denen ich von Schlägen und Hänseleien die nicht aufhörten erzählte, als sie mich einmal besuchten, haben mir das nicht geglaubt. Und mich dort gelassen bis zum Ende. Weil sie den Ärzten nicht widersprechen wollten. Und schließlich sollte ich ja auch abgehärtet werden, denn ich war zart und feingliedrig, nicht so robust und hart, wie sie mich gern gehabt hätten. Meine Eltern dazu: "Sie soll hart werden."

Während ihres Besuches - ich lag wegen Halsschmerzen 2 Wochen lang auf der Krankenstation (hier wurde ich besonders stark gequält) - hat mich meine Mutter förmlich ausgequetscht, ich sollte erzählen, was so schlimm für mich war. Sie saß an meinem Bett und ich war froh, ihr das anvertrauen zu können. Von den Prügeln, dem Arm-umdrehen, dem Füße-quetschen, dem Würgen, dem Mund-zuhalten. Weil ich fest glaubte, meine Eltern würden mich auf der Stelle mit nach Hause nehmen. Und alle Kinder dort hörten zu. Alle, die mich schlugen und prügelten. Meine Eltern ließen mich dort. Einfach so. In Tränen aufgelöst. Mein Vater filmte bei ihrer Abreise meine Tränen, die ich verzweifelt am Fenster vergoss. Sie waren den Obrigkeiten hörig, die darauf bestanden, mich dort zu behalten. Meine Eltern kannten es nicht anders. Danach kam von Seiten der anderen Kindern erst recht die Hölle an Verprügelungen, weil ich sie verraten hatte.

Ich bin nie darüber hinweggekommen, dass meine Eltern mir das alles nicht geglaubt haben und mich dort ließen. Sie hatten mich im Stich gelassen, als ich sie am meisten gebraucht hatte. Ich entwickelte Stottern und fing an, meine Finger zwanghaft zu verknoten (heute habe ich dort Arthrose) und mich selbst zu verletzen.

Nach meiner Rückkehr war ich verschlossen und in mich gekehrt geworden - meine Eltern nannten es verstockt - und habe kein Vertrauen mehr ernsthaft aufbauen können. Meine Eltern haben das nicht gemerkt oder merken wollen. Ich wäre sonst fortgegeben worden. In ein Heim oder eine Besserungsanstalt. Auch meine Rückkehr auf dem Kieler Bahnhof hat mein Vater auf Super 8 gefilmt. Ich sitze da wie betäubt oder weggetreten statt mich zu freuen, wieder zuhause zu sein, hat mein Vater doch ein großes "Herzlich Willkommen" gezeichnet. Ich habe mich, als ich den Film nach Jahrzehnten angeschaut habe, fast nicht erkannt. Zurück zuhause im Wohnzimmer habe ich ins Nichts gestarrt und wurde ermahnt, meinen Eltern nicht "so ein böses Gesicht" zu zeigen. Das hörte ich bis in mein Erwachsenenalter. Sie haben nicht erkannt, dass ich kein "böses" sondern ein trauriges Gesicht hatte.
Das Stottern ging weg, aber das Fingerkneten und die Selbstverletzungen sind geblieben.

Ich zog mich ganz zurück in meine Phantasiewelt. Ab jetzt bestimmte die Angst vor anderen Menschen mein Leben in allen Bereichen. Ein Leben im Eisglaskäfig, beherrscht von Vermeidung, Distanz, Kontrolle, Zwang, Perfektion, Angst und Alpträumen. Ich hatte danach eine grauenhafte Angst vor fremden Menschen entwickelt. Mühsam errichtete ich die Fassade, "normal" zu sein, um Himmels willen nicht aufzufallen, "normal" zu sein, damit das Thema "Ins Heim geben" oder "Schleswig" (fürs Irrenhaus) nur nicht wieder virulent wurde. Die schlimmste Drohung bei unerwünschter Lebendigkeit von meiner Seite war: "Dann holen sie dich (fort von hier ins Heim oder Irrenhaus)". Wer, um Himmels Willen, war das, vor dem mich nicht mal meine Eltern beschützen konnten?

In der Zeit danach habe ich eine Kunstfigur (Conny) erfunden, die die schöne und starke Seite des Lebens erleben durfte. Zu ihr konnte ich mich jederzeit hinbeamen (Dissoziation) und keiner hat etwas gemerkt. Ich hatte mich aufgespalten, das Trauma verdrängt. In der Schule kam ich mit dem Lernstoff noch einigermaßen gut zurecht (sogar inklusive dissoziieren) und konnte das Verpasste nachholen. Das Zwischenmenschliche aber, die Freundschaften, die ich vorher ganz zart geschlossen hatte, war vorbei. Das war gelaufen. Ausgelöscht in nur 6 Wochen. Die Freundschaften, die ich vor meiner Verschickung vorsichtig geschlossen hatte, waren zugunsten anderer Kinder aufgelöst worden. Meine Eltern merkten nichts. Nachts hatte ich schlimme Alpträume. Jahrelang. Tagsüber lernte ich zu funktionieren. Notgedrungen. Hilfe zur Aufarbeitung fand ich in einer Therapie, die auch meine Verschickung einschloss, und die Hölle von damals musste ich noch einmal durchleben.

Freude am Leben habe ich nicht mehr finden können, das Leben an sich ist für mich beschwerlich geblieben. Denn ich bin hochsensibel und geräuschüberempfindlich, das hat sich nach vielen Jahren herausgestellt. Diese Eigenschaft hat viele schöne - künstlerische - Seiten, die ich auch genossen habe, aber es bringt mich sehr schnell an meine Grenzen. Zu laut, zu voll mit Menschen, zu dicht, zu viele Eindrücke, die ein hochsensibler Mensch nicht in dem allgemein verschriebenen Tempo verarbeiten kann. Vieles, was für andere Menschen selbstverständlich ist, ist für mich überfordernd und undenkbar. Konzerte, Theater, Kino, Versammlungen, Shopping, Verreisen, all das geht für mich nicht.

Unterstützung bei den schweren Themen fand ich, indem ich meine Freude an der Kunst (wieder-)entdeckte. Was ich mit Worten nicht ausdrücken konnte, malte, zeichnete, collagierte ich und ich arbeitete mich in Bildbearbeitungsprogramme ein, um meine zahllosen Fotos zu manipulieren, um in der Veränderung vielleicht irgendein Erinnern einsetzen konnte. Ein paar Jahre während der Therapie konnte ich meine künstlerischen Seiten intensiv ausleben, auch Ausstellungen machen, aber es war nicht von Dauer. Erneut hatte ich mit der emsigen Arbeit meinen Perfektionismus gefüttert und es war wieder nur Verdrängung, um der Aufarbeitung des Schlimmsten auszuweichen.

Ich habe nahezu alles aufgearbeitet, aber irgendeine Art von Schuld kann ich bei meinen Eltern trotzdem nicht erkennen, denn auch sie konnten mir nur das geben, was sie von ihren Eltern bekommen hatten. Was ihnen selbst an liebevoller Zuwendung, Vertrauen, Rückenstärkung gefehlt hatte, konnten sie auch nicht an mich weitergeben. Beide waren vom Krieg schwer traumatisiert. An dieser Stelle hat mir das Buch "Wir Kinder der Kriegskinder" von Anne-Ev Ustorf sehr weitergeholfen.
Mein Vater hat niemals etwas erzählt. Nach meiner Bitte, seine Kriegserlebnisse aufzuschreiben, hat er das kurz vor seinem Tod schweren Herzens getan. Er hatte 5 Jahre Krieg und 5 Jahre Kriegsgefangenschaft in Dnipropetrowsk (ehemalig UDSSR) überlebt mit all seinen Gräueln. Meine Mutter dagegen hat ständig von erschütternden Einzelheiten über russische Gewalttaten an Frauen erzählt. Da war ich noch ein ganz kleines Kind. Ich habe geweint und gebettelt, sie möge aufhören damit, weil es mich zutiefst schmerzte, was ihr und anderen geschehen war, aber sie höhnte nur: "Wir haben das alles Erleben müssen, und du willst das nicht mal hören?" So wurde mein Bitten, Flehen, Weinen schon früh in den Staub getreten und bot eine solide Grundlage für das Böse, das ich während meiner Verschickung erlebt hatte.

Im Jahr 1998 bin ich mit meinem Mann nach St. Peter-Ording gefahren und habe mir das "Goldene Schlüssel" noch einmal angesehen. Ich empfand eine unendliche tiefe Trauer, die ich mir damals und noch Jahre später nicht erklären konnte.
Es war eine Festschrift zum 75-jährigen Bestehen gedruckt worden, die ich mir fotokopieren konnte. Einige Fotos und Namen habe ich erinnert, und ich dachte, das Ganze wäre für mich abgeschlossen. War es aber nicht. Die Stacheln im Fleisch schmerzen solange, bis man sich ihrer annimmt und das dahinter Liegende aufarbeitet.
Es gibt unzählige Eigenschaften, bei deren Auftreten ich immer (elternseits) gesagt bekam: "DU siehst das völlig falsch!" "DU bist total verkehrt!" und ähnlich Grausames. Ich fühlte mich unendlich beschämt, tatsächlich "falsch" und entwickelte starke Selbstvorwürfe, dass ich nicht so war, wie sie mich erwarteten. Erst heute wird mir klar, dass fast alle dieser "falschen" Eigenschaften von mir auf schmerzhafte Erlebnisse während meiner Verschickung zurückzuführen ist. Meine Chance, da seelisch halbwegs gesund herauszukommen, bestand auf der menschlichen Fähigkeit, verdrängen zu können.

2022 tat ich einen nächsten schweren Schritt, indem ich die alten "Normal-8-Filme" meines Vaters digitalisieren ließ. Er hat fast immer alles um ihn herum gefilmt, Dutzende Filme sind noch in meinem Besitz. Auch den Besuch meiner Eltern auf der Krankenstation hat mein Vater gefilmt. Und als einziger Film hat er diesen einen zur Hälfte doppelt belichtet, was an der damaligen Technik lag. Dadurch ist die Ausbeute gering. Ich sah mich also in meinem Krankenbett liegen, meine Hände mit einem Taschentuch verknotet, meine Mutter an meinem Bett. Und meine Mitpatientinnen, die mein Vater ebenso gefilmt hatte.

Und dann ist etwas in mir explodiert, ich kam endlich an die massiven Schmerzen und tiefen Trauergefühle heran, die ich damals hatte. Und ich spürte eine ungeheure Wut in mir auf all die Obrigkeiten und Institutionen, die dieses nicht nur ermöglicht, sondern auch verschwiegen und gefördert hatten. Auf die Frage "Wie war so etwas möglich und warum konnte das so lange Zeit gemacht, geduldet und verschwiegen werden?" gibt es mittlerweile einiges an Literatur. Die grauenhafte Zeit des Nationalsozialismus spielt hier eine zentrale Rolle. Von einer kollektiven Aufarbeitung sind wir ehemaligen Verschickungskinder noch weit entfernt, da auch das sogenannte Schweigegebot so lange gewirkt hat. Aber mittlerweile häufen sich die Aussagen ehemaliger Betroffener und es hat vor kurzem der 4.Bundeskongress stattgefunden.

Das wird nur möglich, wenn viele "Ehemalige" mit ihren Erinnerungen an die Öffentlichkeit treten. Mein Erleben öffentlich zu machen ist mein Beitrag zu diesem traurigen Kapitel deutscher Vergangenheit.

































Kinderbild 'Haus-Baum-Weg 1' Mein Haus, mein Baum, meine Leere, meine Angst






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