Sabine Elender



      



Eure Kinder gehören Euch nicht!
Gingko biloba
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit
und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freunde gerichtet sein;
Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt Er auch den Bogen,
der fest ist.

von Khalil Gibran








Meine Eltern stammen beide aus dem ehemaligen Pommern, der damaligen Kornkammer des Landes. Beide waren auf dem Land geboren und liebten das Leben dort, egal wie hart es sein konnte. Meine Mutter und mein Vater lernten sich jung kennen. Als im März 1944 der Vater meines Vaters überraschend gestorben war, musste der Hof weiterbewirtschaftet werden und das nahmen meine Eltern als Grund, zu heiraten. Sie hatten Pläne. Sie wollten erweitern und modernisieren, sie freuten sich auf ihr kommendes Leben.

1839 zerstörte der 2. Weltkrieg alle ihre Wünsche, Träume und Pläne. 1945 geriet mein Vater in Kriegsefangenschaft in Dnjeprodserschinsk und Dnjepropetrowsk in der Ukraine nahe des Schwarzen Meeres. Er kehrte erst im Sommer 1949 zurück. Auf meinen Wunsch hat er seine Erlebnisse in sowjetischer Kriegsgefangenschaft hier aufgeschrieben.

Meine Mutter blieb mit ihrer Mutter und Schwiegermutter sowie ihrer Schwester und den Frauen im Dorf zurück. Sie erlebten und erlitten ein Jahr unter polnischer Besatzung und wurden dann von der Ostfront überrollt.
Über das, was meine Mutter in den Monaten und Jahren erlebt hatte, ist sie niemals hinweg gekommen.

1945 war der Krieg beendet und langsam kam Hoffnung auf und der Wunsch nach möglichst viel Normalität. Das Leben DANACH begann und nichts und niemand sollte an das Leben WÄHREND des Krieges erinnern oder die tiefen Wunden in der Seele am Heilen berühren.
Doch Heilung stellte sich nicht immer ein. Nicht nach Monaten oder Jahren, manchmal nicht einmal nach Jahrzehnten.
Erst sehr viel später würde man wissen, dass der Krieg Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zerstört zurück gelassen hatte.

Das, was sie dort an Gewalt und Zerstörung gesehen und erlebt hatten, konnten viele seelisch nicht verarbeiten und als Folge davon waren sie selbst schwer erkrankt, kriegstraumatisiert. Doch darüber sprach "man" nicht. "Sowas" war total tabu, es gab viele Gründe, alles was mit dem Krieg zu tun hatte, zu verdrängen.
Das Wissen um Kriegstraumatisierungen existierte damals noch nicht, was bedeutete, dass die Betroffenen mit sich und dem verborgenen Leiden auf sich selbst gestellt waren.
Über "nicht mehr funktionierende Soldaten " wurde bereits nach dem 1. Weltkrieg berichtet. Damals legte man das den Betroffenen als Schwäche aus.

Mein Vater und auch meine Mutter, beide erlitten schwere Kriegstraumata, allerdings wählten beide unterschiedliche Abwehrstrategien, um nicht zu fühlen.

Mit einem der zahlreichen Flüchtlingstrecks war meine Mutter im zerbombten Kiel angekommen. Die Flüchtlinge waren nicht willkommen, gerade einmal geduldet. Hunger herrschte überall und der Winter 1946/47 war erbarmungslos eisig. Der Krieg hatte viele Familien ausgebombt und die, deren Haus oder Wohnung unbeschädigt geblieben waren, mussten Flüchtlinge aufnehmen. Doch das reichte bei weitem nicht aus, und so mussten sehr viele in hastig errichteten Baracken unterkommen.
Das galt auch für meine Mutter, ihre Eltern und Schwester sowie ihre Schwiegermutter. Sie lebten im Lager Eckernförder Chaussee vom 26. April 1946 bis zum 7. Juli 1953. Am 19. Juli 1949 kehrte mein Vater aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, und erst am dem 8. Juli bezogen sie eine kleine Wohnung in Kiel-Wellingdorf.

Meine Eltern hatten sich hin und wieder schreiben können, während mein Vater in Gefangenschaft war, aber fünf Jahre unter solch extremen Bedingungen hatten sie einander fremd werden lassen. Sie verband der gemeinsame Wunsch, sich nun zusammen ein normales Leben aufzubauen. Zuerst musste mein Vater genesen. Er hatte zwei Schussverletzungen und zertrümmerte Halswirbel sowie Tuberkulose. Seine Genesung zog sich länger als ein Jahrzehnt hin.





Die Anfangsjahre waren karg und mühsam. Aber meine Eltern sparten eisern. Ähnliche Schicksale ließen Menschen enger zusammenrücken, im Zentrum standen immer wieder Fragen nach dem Verbleib von Verwandten und Freunden. Der Krieg hatte Familien auseinander gerissen und in alle Winde verstreut. Die sehr lockere Bindung an ihre hiesige Umgebung tat ein Übriges, sie rückwärtsgewandt denken und orientieren zu lassen. Meine Eltern glaubten felsenfest, dass der Status Quo nur ein Übergang war und sie irgendwann in ihre geliebte Heimat zurückkehren würden. Daran änderte weder die Politik noch die vorüberziehenden Jahre und Jahrzehnte etwas.

Meine Eltern hatten Mitte bis Ende der Fünfzigerjahre und auch noch in den Sechzigerjahren häufig Besuch, und der kam stets in Scharen dorthin, wo es gut und viel zu essen gab. Das war bei uns der Fall, mein Vater verdiente Geld und meine Eltern waren stolz, bewirten zu können. Unsere gesamte Wohnung maß 48 qm für 2 1/2 Zimmer, und in dem Wohnzimmer waren dann oft 8 - 10 Personen anwesend. Es war eng und verraucht und mir als Kind wurde das in den meisten Fällen zuviel, es waren ZUVIELE für mich auf so kleinem Raum. Man traf sich also zum Reden über die ehemalige Heimat und die noch vermissten Angehörigen, und zum Essen, das sich über Stunden hinzog.

Eltern-Bilderbogen04



Der Mensch sucht, was er kennt, was ihn zufrieden und glücklich macht. Er versucht, eine verloren gegangene Ordnung wiederherzustellen. Meine Eltern pachteten einen Garten, in dem sie im Kleinen das tun konnten, was ihnen im Großen für immer verwehrt geblieben ist. Dort kultivierten sie das Land, pflanzten Obst und Gemüse zum eigenen Verzehr. Das Wachsen-Sehen, der Erfolg der eigenen Arbeit, das erfüllte sie mit Stolz und Zufriedenheit.

Mein Vater baute ein Gartenhaus aus Holz und Reet und ich bekam einen wunderschönen windgeschützten Sandkasten, große Spielfläche, ein Wasserbassin, eine Schaukel und im Sommer ein kleines Zelt. Hier verbrachte ich die Sommer über viele Stunden mit Sandkuchen-backen, Eimer und Schaufel und gaaanz viel Neugierde. Das Faszinierendste für mich war allerdings Wasser. Wasser in allen Formen, in Eimern, Plastikschalen, Pfützen u.s.w. Irgendwann sehr früh schenkte mir mein Vater ein wirklich megatolles Shell-Plasikauto, das sich mit Wasser befüllen ließ und das auch einen Ablauf hatte. Meine Erinnerung daran ist intensiv und ich habe damit gar nicht aufhören können zu spielen.

Als der Pachtvertrag des ersten Gartens ablief, machten sie sich auf die Suche nach einem anderen. Sie fanden einen, den sie mit dem Auto erreichen konnten und der in der Nähe des Arbeitsplatzes meines Vaters lag, damit er bei schönem Wetter seine Mittagspause dort verbringen konnte. Meine Tante arbeitete zu der Zeit in einer nahegelegenen Gärtnerei, so war es für alle praktisch zu erreichen. Der Garten war für die Familie der Treffpunkt in der warmen Jahreszeit.

Mein Vater hatte das bereits vorhandene Gartenhaus wohnlich gemacht, indem er es innen hell vertäfelte, einen kleinen Schlafraum abteilte, einen Ofen einbaute und ein Loch in den Fußboden grub, um eine Art Kühlschrank zu erhalten. Perfekt wie immer.

Erneut erfreuten sich meine Eltern noch viele Jahre lang trotz des großen Aufwands am Säen, Pflegen, Gießen und Düngen an den Früchten ihrer Arbeit.

Diesen Garten behielten meine Eltern lange, bis sie den Garten nicht mehr bewirtschaften konnten. Im Jahr 2000 brachte mein Vater alles in den Urzustand und nahm Abschied. Traurig und mit Wehmut im Herzen, denn er wusste um die Endgültigkeit.





Es gab einen roten Faden im Leben meiner Eltern, und das war ihre durch den Krieg verlorene "alte Heimat Pommern". Der Gedanke, diese Gebiete wiederzuerlangen, begleiteten sie lebenslang.
Nicht mehr feststellbar wann, hatte mein Vater begonnen, Nachforschungen über die derzeitigen Bewohner anzustellen und freundliche und neugierige Kontakte hergestellt. Ein reger Briefwechsel war die Folge, immer über den Umweg eines Dolmetschers. Und das dauerte manchmal lange, aber es klappte gut.

In den frühen Siebzigerjahren keimte bei meinen Eltern zuerst der Wunsch und danach der Plan, die Orte ihrer Kindheit und Jugend, die nun hinter dem eisernen Vorhang und der polnischen Grenze lagen, zu besuchen. Sie mussten alles akribisch vorbereiten, denn sie wollten mit ihrem Privatwagen fahren. Ein ganz schön mutiges Vorhaben damals.
Morgen geht es weiter.




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